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„Die meisten Leute gehen an dir vorbei mit verächtlichen Blicken. Wenn wir sie um einen Euro bitten, zucken sie zusammen, als würden wir sie gleich ausrauben", erzählt der Obdachlose mit dem Spitznamen Jethroe. Er will seine Geschichte öffentlich machen - den sexuellen Missbrauch, seine Depressionen, den Kampf gegen die Sucht. ,,Für die Gesellschaft bin ich nichts wert. Die Menschen sollen aber mal mitbekommen, dass die am Bahnhof mehr sind als irgendwelche Assis."

„Alle, die im Regensburger Kälteschutzhaus schlafen, müssen immer um neun Uhr morgens raus. Ich besuche dann erstmal Pater Clemens zum Kaffee trinken. Mittags treffe ich mich mit Leuten am Bahnhof und wir saufen den ganzen Tag lang." So sah Jethroes typischer Tagesablauf bis vor kurzem aus. Seit das Kälteschutzhaus Ende März geschlossen hat, schläft er wieder auf seiner angestammten Bank im Ostpark - egal bei welchem Wetter. ,,Vorbeigehende Polizisten kümmert das nicht", erzählt er. Andere dagegen schon. „Während ich schlief, ist mir schon Geld abhanden gekommen, und einmal haben sie mir dort sogar die Schuhe gestohlen." 

Aus dem Suchtstrudel ausbrechen

Eine Weile war Jethroe das Heroin los. Zehn Wochen lang war Alkohol, vorrangig Bier, das einzige, was er konsumiert hat. Doch davor brachte er seinen Körper bis an dessen Grenzen. Die Mischung aus Heroin, Benzos, Tavor, Lyrica und Alkohol brachte ihn mehr als einmal für eine Nacht ins Krankenhaus. Nur dank einer guten Freundin habe er die Kraft aus dem Strudel der verschiedenen Substanzen auszubrechen. ,,Ich weiß, dass mein Verhalten ihr wehtut."

Dann kam ein erneuter Rückfall: Nach zehn Wochen clean sein übermannten ihn die negativen Gedanken. Er setzte sich seine erste Spritze Heroin seit langem. Auf die erste folgte die zweite. Und bald kamen wieder Heroin und Tabletten zusammen. ,,Ich weiß, dass ich wieder aufhören muss. Ich drücke auch nicht jeden Tag. Ich will das nicht mehr." Jethroe will eine Therapie machen - wegen seiner Suchtproblematik, aber auch wegen der Depressionen. Er hofft, dass DrugStop ihm einen Therapieplatz vermitteln kann. Sie hatten schon vielen geholfen. Alleine schafft er es irgendwie nicht. 

Überdosis zu Schulzeiten

In seinen 52 Jahren hat Jethroe schon drei Suizidversuche unternommen. Den ersten als er vierzehn war. Seit er als neunjähriges Kind auf einem Spielplatz missbraucht wurde, reagierte er auf alles aggressiv. Auch der spätere Aufenthalt in einem Kinderheim, wo tägliche Prügel auf der Tagesordnung stand, half dabei nicht.

Um dem Ganzen zu entkommen, suchten Jethroe und sein Schulkamerad sämtliche Tabletten zusammen, die sie finden konnten: Später stellten Ärzte fest, dass sie rund 200 Schmerztabletten und Psychopharmaka geschluckt hatten. überlebt haben beide, weil sein Schulkamerad damals doch noch alles ausgeplaudert hat. 

Freunde sterben sehen

Jethroe selbst lebt noch, doch anderen musste der Obdachlose beim Sterben zusehen. Wie vor etwa zwei Jahren, als er Karo kennen lernte: ,,Es ging ihr sehr schlecht und sie wollte nicht mehr leben. Ich wollte ihr etwas Gutes tun und besorgte zwei Hits." Er lebe schon immer nach dem Grundsatz, dass man niemanden im Stich lassen und füreinander da sein solle.

Aber in diesem Fall ging der Schuss nach hinten los. Als der Notarzt nach 20 Minuten kam, war es schon zu spät: Karo verstarb im Krankenhaus mit irreparablen Hirnschäden an einer Überdosis Heroin. Ihr Tod schürt Jethroes Selbstverachtung: ,,Ich gebe mir selbst die Schuld. Sie wollte nicht mehr leben und ich habe ihr das gegeben, was ihr Leben beendet hat."

Geld verdienen - anschaffen gehen

Jethroe hat schon in vielen Städten versucht, immer wieder neu anzufangen. Er arbeitete auf dem Bau, als Lagerarbeiter und auch eine Weile mit Pferden. Einmal war er verheiratet, aber nur drei Monate lang. Seit dem Missbrauch als Kind sei Sex ein heikles Thema für ihn - auch wenn es dabei um die eigene Frau gehe.

Aber sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken ist schwierig, wenn man immer wieder in Kontakt mit Drogen kommt. Und wie finanziert man Drogen? Natürlich mit Anschaffen: ,,In Nürnberg bin ich 1992 auf den Schwulenstrich gegangen. Zuletzt finanzierte ich die Drogen meist mit dem Geld von Freunden oder ich bekam sie, dank guter Beziehungen, umsonst."

Aggressionen bewältigen

Drogen und aggressive Reaktionen. Wenn ihm jemand krumm kam, endete das nicht selten in kurzen Gefängnisaufenthalten wegen Sachbeschädigung oder Körperverletzung. Es gebe nahezu keinen Knochen, den er sich noch nicht gebrochen habe, erzählt Jethroe. 

Heute habe er seine aggressive Natur endlich hinter sich gelassen, und er beschreibt sich selbst als einen friedliebenden Menschen: ,,Ich bin mittlerweile Pazifist", sagt er stolz.

Ausgeliefert - ungerechtfertigt in der Psychiatrie

Nicht jede Strafe ist gerechtfertigt. Im Jahr 2000 landete Jethroe in der Forensik - sechs Jahre lang. Der Auslöser: Fahren ohne Führerschein. Noch nicht mit der Fahrschule fertig, machte er eine Spritztour mit dem Wagen seiner damaligen Partnerin, die er seit ein paar Monaten kannte. Die Fahrt endete mit einem Unfall. Seine Freundin verlangte, dass er sich selbst anzeige, damit sie das Geld für den Sachschaden bekomme. Am Morgen nach seinem Geständnis standen vor Jethroes Tür plötzlich drei Polizisten. Sein damals aufbrausendes Gemüt führte zu einer Schlägerei und zu einem Gutachten, das ihn für unzurechnungsfähig erklärte und ihn in eine bayerische Forensik (Ort dem Autor bekannt) führte.

Erst sechs Jahre später wurde er schließlich frei gelassen. Er bekam sogar eine Abfindung, als ein Gericht feststellte, dass die Strafe im Verhältnis zur Tat vollkommen unangemessen war. Doch die schlimmen Erfahrungen bleiben.

„Der Oberarzt (Name dem Autor bekannt) hat die Leute willkürlich wegen Bagatellen sanktioniert", erzählt Jethroe. Er und dessen Stellvertreter seien „faschistoide Opportunisten" gewesen. ,,Hier drin bin ich Gott und Sie tun, was ich sage", habe der Oberarzt zu ihm gesagt. Er und andere seien öfter zur Bestrafung in einen Raum gesperrt worden, ,,Fixe" genannt. ,,Dort gab es nichts außer einem Bett mit Fixiergurten, mit denen sie uns fesseln konnten. Der Raum, einschließlich Badezimmer, wurde 24 Stunden nonstop mit Kameras überwacht. Es gab keinerlei Privatsphäre und war entwürdigend."

Mithilfe seines Anwalts habe er nach seiner Freilassung dafür gesorgt, dass vier weitere Insassen freikamen, die ebenfalls ungerechtfertigt in der Psychiatrie gewesen seien.

Ein Leben lang gekämpft

Einerseits gefalle mir das Leben auf der Straße, sagt Jethroe. ,,Seit ich in Regensburg lebe, habe ich mich hier gut etabliert. Ich habe das Gefühl, dass ich hierher gehöre. Andererseits hätte ich aber gerne ein geordnetes Leben." Dass Jethroe obdachlos ist, hat allerdings wenig mit mangelnder Bildung zu tun. ,,Pater Clemens fragte mich einmal, wieso so ein gebildeter Mann wie ich auf der Straße lebe. Ich kenne die Werke von Goethe und Schiller und habe die Bibel sowie den Koran gelesen." Doch wenn man erst einmal im Gefängnis gewesen sei, dann bekomme man nicht von vielen eine zweite Chance. ,,Ich habe mein Leben lang gekämpft, um nicht aufzugeben." Diese Kämpfernatur habe er von seinem Vater. ,,Der hat schon im Krieg gekämpft."

Traumatische Erfahrung bleibt immer im Hinterkopf

Als er vor rund 17 Jahren in einer Fachklinik war, redete Jethroe das erste Mal mit einer Psychologin über seine Kindheit. Die Diagnose: Als Folge des Missbrauchs sind Multi­traumata entstanden, die zu Borderline und Selbstverachtung führten. ,,Ich habe mir lange Zeit selbst die Schuld an dem Missbrauch gegeben. Es bleibt für immer im Hinterkopf. Das hat irgendwie mein ganzes Leben zerstört." Manchmal verletztJethroe sich selbst mit Sicherheitsnadeln - ,,um die düsteren Gedanken für eine Weile zu vertreiben", sagt er .


Nachsatz: Fast zwei Jahre später hat Jethroe einen erfolgreichen Entzug in einer Klinik hinter sich gebracht. DrugStop hatte ihm den Therapieplatz vermittelt. Er versucht clean vom Heroin zu bleiben, auch wenn es ein ständiger Kampf für ihn ist.

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